
Hussein Chalayan
Freie Fersform
Schon während des Design-Studiums am Londoner Central Saint Martins College wurde er angeblich stets mit Taschen und Tüten voller Bücher aus vollkommen anderen Gebieten gesichtet: Philosophie, Physik, Architektur, Biologie, Kulturtheorie. Die Früchte dieser Lektüre sollten schon wenig später konkrete Form annehmen: Seit Mitte der Neunziger ist Hussein Chalayan als Querdenker bekannt, als Vordenker an der Grenze zwischen Mode, Kunst, Technologie, die er permanent auszuradieren versucht, sie mit unkonventionellen Inszenierungen jenseits von Catwalk-Modealltag und gängigen Ästhetiken sprengt. Als Modeschöpfer, Künstler und Kreativchef von Puma, bewegt sich der im türkischen Teil von Zypern geborene Allrounder unvergleichlich smooth zwischen den Disziplinen, schlägt immer neue Brücken in seinen Kreationen. Wie das aussehen kann, beweist er diesen Herbst eindrucksvoll mit dem neuen „Urban Swift“, womit Chalayan den guten alten „Clyde“ auf die Überholspur schickt.
Wir schreiben das Jahr 1995. Björk veröffentlicht ihr zweites Album „Post“, geht damit noch ein bisschen mehr durch die Decke und verwandelt sich endgültig in ein wuschiges Wesen von einem anderen Stern. Ein damals 25-jähriger Modedesigner namens Hussein Chalayan ist ebenfalls an diesem großen Wurf beteiligt, wenn auch nicht mit den Ohrmuscheln vernehmbar: Er ist es, der die in Luftpostfarben gehaltene Jacke entwerfen darf, die Björk auf dem Cover des besagten Meilensteins trägt. Ein recht schlichtes Jäckchen eigentlich, das sich bis heute unzählige Menschen angeschaut haben, während sie den verschrobenen Klangwelten der Isländerin lauschten. Bereits mit diesem Cover und dieser Jacke hatte Chalayan etwas geschafft, was er mit jedem seiner Werke versucht: die Menschen zu erreichen. Traditionelle Kanäle, Schubladen, Ansätze zu sprengen, die Dinge aus klassischen Kontexten zu zerren. Schon damit war Chalayan quasi unbemerkt ins Leben der Leute eingedrungen und fand nicht nur in irgendwelchen elitären Kreisen oder auf exklusiven Runways statt. Auf einmal hielten die Leute eine Kreation von ihm in den Händen – wenn auch bloß ein schmieriges CD-Cover, einen Teil von diesem eigentlich so unschönen Medium, wie man heute weiß. Doch damals war ja auch die CD noch recht neu und – unglaublich eigentlich – irgendwie spannend. Es war die Technik von morgen. Und die interessiert Chalayan nun mal.
Noch im selben Jahr revanchierte sich Björk und ging für den jungen Designer im Rahmen der Londoner Fashion Week auf den Laufsteg, nachdem er noch ein paar Kostüme für die Tour zu „Post“ entworfen hatte. Ihr Kommentar: „Hussein gelingt es wirklich, den Alltag in etwas Magisches zu verwandeln. Diese besondere Gabe, diese Kraft ist ihm angeboren, und nun bleibt nur die Frage, ob sich fünfzigtausend Geschäftsleute gemeinsam mit ihm an diesen magischen Ort begeben wollen.“ Fünfzigtausend waren es wohl nicht. Aber die Geschäfte laufen gut für den heute 41-jährigen Wahllondoner, der seit Mitte der Neunziger auch unter seinem eigenen Namen ein Modelabel betreibt. Auch im Jahr 2011, fünf Studioalben der Isländerin später, in seinem dritten Jahr als Creative Director für Puma.
Schon bevor er mit Björk gemeinsame Sache machte, hatte der 1970 geborene Chalayan für Furore gesorgt: 1993 ließ der junge Hussein seine erste Kollektion vom Stapel, machte damit seinen Abschluss am Londoner Central Saint Martins College. Und legte damit den Grundstein für eine Karriere als Star-Designer und Dauergast in so schillernden Medien wie Vogue und Co. Besagte Debütkollektion hieß „The Tangent Flows“, und sie bestand aus oxidierten Stoffen, Seiden- und Baumwolltüchern, die er mal eben hinter dem Haus in seinem Garten vergraben hatte, um sie erst nach geschlagenen drei Monaten wieder zu exhumieren und die daraus gestalteten Kleider sofort an einen großen Kunden zu verkaufen. Titel und Ansatz – der buchstäbliche „Flow“, dazu der hier von Würmern angenagte Hang zu ungewöhnlichen Materialien, neuen Techniken – zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch sein komplexes Werk, das seither immer wieder neue Formen annimmt: Mal illustrierte er 111 Jahre Modegeschichte in einer Kollektion, dann war es ein Riesenseifenblasenkleid für Lady Gaga oder Strickkleider mit integrierten Gehstöcken. Mal war es Fashion aus Papier, die sich zusammenfalten und per Luftpost verschicken ließ, dann Kleider, die mit satten 15.000 LED-Leuchten bestückt waren. Nicht ohne Grund schrieb Wolfgang Joop schon 1997 folgende Worte: „Aufmerksamkeit erregt höchstens noch das Absurde, zum Beispiel die Entwürfe von Chalayan. Aber wer braucht Ärmel bis zum Knie?“ Die brauchten in der Tat nicht viele, aber sein Design-Know-How stand und steht gleichwohl hoch im Kurs.
Nachdem er Ende der Neunziger als Design-Consultant für die New Yorker Strickfirma TSE gearbeitet hatte, gewann er zur Jahrtausendwende gleich zwei Mal in Folge den Preis als „British Designer Of The Year“. Kein Wunder: Seine Kollektionen hatten und haben stets was von Kunstinstallationen, oder zumindest dann, wenn er sie nicht gerade in wieder anderen Medien präsentiert, als Kurzfilm zum Beispiel, und damit andere Filmemacher alt aussehen lässt. Seine Themen: Technologien von morgen, kulturelle Identität, Migration und Heimat – Dinge, die ihm als Zyprioten quasi in die Wiege gelegt wurden, wuchs er doch mit einem Bein im türkischen Teil der Insel, mit dem anderen in London auf, einer Stadt, die er noch immer als „das Pendant zu New York in Europa“ und heute wohl am ehesten als seine Heimat bezeichnet.
Jenseits von bloßen „Ost vs. West“-Klischees, die seine Vita ja nahe legt, vereint der mit 12 von Zypern nach London seinem Vater gefolgte Chalayan laut eigener Aussage Dinge aus unterschiedlichsten Disziplinen in seinem Werk: Architektur, Philosophie, Anthropologie, Wissenschaft und nicht zuletzt Technologie verschmelzen hier zu einem eklektischen Mix, das trotzdem nicht überladen oder zu intellektuell wirkt: jener gefeierte „After Words“-Couchtisch, der sich wie ein Teleskop zu einem Rock ausziehen lässt, ist auch dann beeindruckend, wenn man nicht wie er die großen Kulturtheoretiker gelesen hat.
„Mein zentrales Anliegen in der Modewelt war immer, dass die Kleider die Welt und das Leben widerspiegeln sollen“, so der 41-Jährige, der für die Venedig-Biennale 2005 mit Tilda Swinton gearbeitet hat, über seinen interdisziplinären Ansatz. „In den anderen Bereichen der Kultur passiert das doch auch. Ich wollte einen Ansatz verfolgen, bei dem ich immer wieder vor neuen Herausforderungen stehe und der mich gewissermaßen zum Lernen zwingt. Ich hab schon immer gerne Theorie gelesen. Und überhaupt finde ich zunehmend Gefallen an Widersprüchen, den Dingen, die wir zwar irgendwie wissen, aber dennoch nicht klar artikulieren können.“
Nach diversen Kunst-Highlights – Ausstellungen in der Tate Modern, im MOMA und im Louvre – ist er seit 2006 als „Member of the British Empire“ nicht nur im Team der Königin, sondern seit 2008 auch Creative Director bei Puma, wo er sich unter anderem um die ursprünglich als „Urban Mobility“ ins Rennen geschickte Kollektion und damit um Themen wie Urbanität und Fortbewegung kümmert. Auch das passt wie die Faust aufs Auge, wollte er doch als Kind erst Pilot und dann Architekt werden. „Puma by Hussein Chalayan“ ist der offizielle Titel, unter dem seine Arbeit nun läuft.
Diesen Herbst stellt er nun den „Urban Swift“ vor, wofür er den Puma-Klassiker „Clyde“ mit dem Style seiner eigenen „Inertia“-Kollektion, die nun schon zwei Jahre zurückliegt, zusammengedacht hat. Das Ergebnis ist ein schlichter und zugleich extravaganter Sneaker, handgefertigt an der italienischen Adriaküste, der eher wie eine Skulptur funktioniert und einem durch die Spikes im Fersenbereich die Begriffe „Urban“ und „Swift“ perfekt vor Augen führt. Eingefrorene Bewegung im urbanen Raum – ein neuer großer Schritt für den Design-Veteran aus Zypern.
Überhaupt bewegt sich Chalayan mit Puma in Zwischenräume und Nischen – er denkt Sport, Funktionalität und Fashion-Statement zusammen und verschweißt diese Bereich zu einem neuen Hybrid. „Ja, insgesamt ist die Kollektion auf jeden Fall so ein Hybrid, eine Kollektion, in der Style und Hi-Tech-Funktionalität in so einer Weise kombiniert sind, dass man damit perfekt für die urbane Landschaft ausgerüstet ist. Die Kollektion zeichnet sich also durch die Balance zwischen technischem Know-How aus dem Hause Puma und meinem Ansatz als Designer aus, in den ich immer auch Geschichten einfließen lasse.“ Welche Geschichten das konkret sind, sagt er in diesem Fall nicht. Heckspoiler und Batmobil sind nur zwei Konzepte, die der „Urban Swift“ anschneidet.
So rastlos und umtriebig Chalayan auch sein mag, ist er doch alles andere als ein Typ, der nur auf Ruhm oder Geld aus ist. Es geht ihm um Ideen und deren Umsetzung, ganz gleich, ob man dafür mit Puma arbeitet oder mit Comme des Garcons. Ihm würde es nie reichen, wenn man seine Kreationen nur im Blitzlichtgewitter auf dem Laufsteg bewundern würde. Und wenn schon Blitzlichtgewitter, warum dann nicht eines, wo wirklich die ganze Welt hinsieht: Anfang des Jahres lief Lady Gaga bei der Grammy-Verleihung in einer Art Kokon auf, einer eierförmigen Fruchtblase, wenn man so will. Auch die war natürlich ein Chalayan-Design. Doch selbst wenn man meinen könnte, Gaga sei das Nonplusultra, die perfekte Figur für einen Designer, weil man sich bei ihr so richtig austoben kann, träumt Chalayan doch noch von einer ganz anderen Kollaboration: „Ich würde gerne einmal Kate Bush einkleiden. Ihre Welt war immer eine sehr wichtige Inspriationsquelle für mich.“
Man kann den Ansatz des Utopisten Chalayan durchaus als „Future Minimalism“ bezeichnen, auch wenn seine Schaffenspalette im Grunde genommen viel zu groß ist für klare Kategorien und derartige Schlagworte. Fest steht nur – und das illustrieren die neuen „Urban Swift“-Sneaker ziemlich grandios: Stillstand ist bei Chalayan nicht drin. Gerade erst hat er einen gefeierten Duft namens „Airborne“ für Comme des Garcons kreiert; seine Monographie wird im September bei Rizzoli veröffentlicht. So war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass er seine eigenen Siebenmeilenstiefel launchen würde.
Illustrationen: Ollanski
Text: Renko Heuer